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Aktenzeichen:

StA Salzburg (568), 2 St 246/23b

Veröffentlicht durch:

OStA Linz (457), 5 OStA 542/23y

Bekannt gemacht am:

16.08.2024


Entscheidungsdatum:

08.07.2024

Einstellungsgrund

§ 190 Z 1 StPO


 

Sachverhalt:

In der Nacht vom 10.12.2023 auf den 11.12.2023 führte E. L**** eine Schleppung von zehn Personen mit syrischer Staatsangehörigkeit von Slowenien nach Österreich und weiter nach Deutschland durch.

Im Zuge der Schleppungen erreichte er zwar Deutschland, aber es gelang ihm nicht, die geschleppten Personen abzusetzen, weil die deutsche Polizei auf ihn aufmerksam wurde. Er entzog sich in Deutschland der Anhaltung durch die Polizei und flüchtete wieder nach Österreich zurück. Die deutschen Polizisten meldeten ihre grenzüberschreitende Nachfahrt der österreichischen Polizei, die sich der Verfolgung des E. L**** anschloss. Trotz mehrerer Anhalteversuche und Errichtung einer Straßensperre setzte E. L**** seine Flucht unbeirrt fort.

E. L**** versuchte in zumindest drei Angriffen den Streifenkraftwagen besetzt mit RevInsp T.F**** und RevInsp P. F**** von der Straße zu rammen, wobei aufgrund der gefahrenen Geschwindigkeiten und der herrschenden Fahrbahnverhältnisse (Nässe und teilweise Glatteis) Lebensgefahr für alle Beteiligten bestand.

Als ein weiterer Versuch von E. L**** erfolgte, den Streifenkraftwagen zu rammen, beschloss der Beifahrer RevInsp T. F**** von seiner Dienstwaffe Gebrauch zu machen.

RevInsp T. F**** gab zwei Schüsse auf das Schlepperfahrzeug mit seiner dienstlich zugewiesenen Pistole Marke „Glock“, Typ „17“ ab. Ein Schuss durchschlug die linke, hintere Seitenscheibe sowie die Kopfstütze des Fahrers und trat durch die Windschutzscheibe wieder aus. Ein weiterer Schuss durchschlug die linke Seitenscheibe auf Höhe des Fahrers und blieb im Dachhimmel im Bereich der Sonnenblende unter der Verkleidung stecken.

 

RevInsp T. F**** war verdächtig, am 11.12.2023 in 5760 Saalfelden

A./ E. L**** durch zumindest zwei Schüsse mit einer Pistole „Glock 17“ zu töten versucht zu haben, wobei er ihn verfehlte;

B./ durch die unter Punkt A./ angeführte Handlung fahrlässig eine Verletzung des A. D****, eine der geschleppten Personen im Fahrzeuge des E. L****, herbeigeführt zu haben, nämlich diverse Schnittverletzungen, durch Splitter der Seitenscheibe.

 

Er war daher – unabhängig von der zu prüfenden Berechtigung und Verhältnismäßigkeit des Schusswaffengebrauchs – verdächtig,

zu Punkt A./ das Verbrechen des Mordes nach §§ 15, 75 StGB und

zu Punkt B./ das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB

begangen zu haben.

 

E. L**** hörte zwar auf, den Streifenkraftwagen zu rammen, setzte seine Flucht aber trotz der Schussabgaben fort.

Schließlich kam er mit dem Fahrzeug von der Straße ab und blieb auf einem Feld im Schnee stecken. Er flüchtete sofort zu Fuß weiter und ließ die geschleppten Personen zurück. RevInsp T. F**** und RevInsp P. F**** nahmen die Verfolgung zu Fuß auf.

Der an der Verfolgung des Schlepperfahrzeugs ebenfalls beteiligte Streifenkraftwagen besetzt mit KontrInsp S. F**** und Insp S.T. U**** langte kurz darauf beim zurückgelassenen Fahrzeug des Schleppers ein. Da unbekannt war, wer sich noch im Fahrzeug befand, ob diese Personen bewaffnet waren und wer zuvor die Schüsse abgegeben hatte, sicherten die Polizistinnen das Schlepperfahrzeug unter Verwendung der dienstlich zugewiesenen Langwaffen Marke „Steyr“, Typ „AUG ZA3“. Sie forderten die Insassen mehrfach auf, das Fahrzeug mit gehobenen Händen zu verlassen, wobei dieser Anweisung keine Folge geleistet wurde.

KontrInsp S. F**** befand sich schräg vor der rechten Seite des Schlepperfahrzeuges und ging gerade etwas rückwärts, als ein Schuss aus ihrer Waffe brach. Dieser durchschlug die rechte, hintere Seitenscheibe des Schlepperfahrzeugs und traf A. A****, eine der Personen im Fahrzeug, im Kopfbereich. In der Kleidung des Opfers und in seinem Körper konnten Projektilteile aufgefunden werden. Ursache und Anlass der Schussabgabe waren anfangs nicht bekannt.

KontrInsp S. F**** war daher – unabhängig von der Berechtigung und der Verhältnismäßigkeit des Waffengebrauchs – verdächtig, am 11.12.2023 in 5760 Saalfelden A. A**** durch einen Schuss mit einer Langwaffe „Steyr AUG ZA3“ zu töten versucht zu haben, wodurch A. A**** eine Schussverletzung im Unterkiefer erlitt.

Ausgehend vom Kenntnisstand zu Beginn des Ermittlungsverfahrens war ein Anfangsverdacht in Richtung des Verbrechens des Mordes nach §§ 15, 75 StGB und die Rechtfertigung des lebensgefährlichen Schusswaffengebrauchs zu prüfen.

Das LKA Vorarlberg übernahm die Ermittlungen gegen die Salzburger Polizisten, um jeden Anschein der Befangenheit zu vermeiden. Es wurden alle geschleppten Personen und die beteiligten Polizisten als Zeugen vernommen. Weiters wurde ein umfangreicher Tatortbericht samt Schusswinkelbestimmung zu allen abgegebenen Schüssen erstellt. Die verwendeten Dienstwaffen wurden durch das Bundeskriminalamt 6.2.2 - Referat Waffen und Formspuren untersucht.

Durch die Staatsanwaltschaft Salzburg wurde ein Gutachten der Gerichtsmedizin Salzburg zu den Verletzungsfolgen und zur Feststellung des Schusskanals eingeholt. Ein weiteres Gutachten aus dem Fachbereich für Verkehrsunfall Straßenverkehr, Unfallanalyse, Kfz-Reparaturen, Havarieschäden und Bewertung wurde durch den Sachverständigen Dipl-.Ing.(FH) G. K**** über Auftrag durch die Staatsanwaltschaft erstattet. 

Vorhandene Beweismittel und Würdigung:

Aus dem Gutachten des Sachverständigen Dipl.Ing.(FH) G. K**** ergibt sich zusammengefasst, dass es drei Kollisionen zwischen dem Streifenkraftwagen besetzt mit RevInsp P.F**** und RevInsp T. F**** und dem Schlepperfahrzeug gab. Bei der ersten Kollision rammte das Schlepperfahrzeug den Streifenkraftwagen von hinten mit einem Geschwindigkeitsüberhang von 34 – 38 km/h, woraus sich ableiten lässt, dass E. L**** den Streifenkraftwagen absichtlich und ungebremst rammte. Bei der zweiten Kollision traf das Schlepperfahrzeug mit seinem linken Frontstoßfänger die rechte hecknahe Außenflanke des Streifenkraftwagen mit einem Geschwindigkeitsüberhang von 16 – 20 km/h. Durch die markanten Streifspuren ließ sich feststellen, dass E. L**** sein Fahrzeug nach links lenkte, um den Streifenkraftwagen zu rammen. Bei der dritten Kollision zwischen der gesamten rechten Seite des Streifenkraftwagen bis zum vorderen Stoßfänger und der linken Seite des Schlepperfahrzeuges lag ein Geschwindigkeitsüberhang von 25 bis 30 km/h vor, wobei sich aus den Reifenandrehspuren ergibt, dass E. L**** sein Fahrzeug in den Streifenkraftwagen lenkte. Bei allen drei Kollisionen lag aufgrund der Fahrbahnverhältnisse und der gefahrenen Geschwindigkeiten Lebensgefahr für die Fahrzeuginsassen des Streifenkraftwagen vor.

Die Beifahrerin der KontrInsp S. F****, Insp S.T. U****, gab in ihrer Vernehmung als Zeugin an, das Schlepperfahrzeug habe den Streifenkraftwagen von hinten gerammt, um diesen wieder zu überholen. Danach habe es zwei seitliche Kollisionen gegeben, die vom Schlepperfahrzeug verursacht wurden. Sie habe während der Nachfahrt mehrere Knallgeräusche gehört und es seien dann Splitter oder Gegenstände gegen die Motorhaube ihres VW-Busses gefallen. Sie seien davon ausgegangen, dass Schüsse gefallen seien und sie habe über Funk einen „Schusswechsel“ durchgegeben. Sie habe dabei nicht gewusst, wie viele Schüsse gefallen seien und woher diese gekommen seien. Sie und KontrInsp S. F**** hätten daher nicht gewusst, ob die Schüsse aus dem Schlepperfahrzeug gekommen seien. Den Schuss von KontrInsp S. F**** habe sie zwar gehört, aber nicht gesehen, weil sie zu diesem Zeitpunkt auf der gegenüberliegenden Seite des Schlepperfahrzeuges gestanden sei.

Der Fahrer des Streifenkraftwagen (mit RevInsp T. F****), RevInsp P. F****, schilderte als Zeuge ebenfalls mindestens drei Kollisionen. Die Situation sei lebensbedrohlich gewesen. Zwischen den Kollisionen habe er zwei Schüsse wahrgenommen, wobei er seine ganze Konzentration für das Lenken des Fahrzeuges aufgewendet habe und deshalb keine genaueren Wahrnehmungen dazu habe. Nach den Schüssen sei der „Druck/Kontakt“ vom Fluchtfahrzeug weg gewesen und der Schlepper habe sein Tempo verringert. Danach sei sehr viel Funkverkehr gewesen und er habe durchgegeben, dass die Schüsse von ihnen (gemeint den Beamten) abgegeben worden seien.

Aus dem vorliegenden Funkverkehr geht hervor, dass mehrere Kollisionen zwischen den Fahrzeugen durchgegeben wurden. Um 00:45:00 wurde aus dem Streifenkraftwagen von KontrInsp S. F**** durchgeben „Hier Saalbach 1 – es wird geschossen – Schusswechsel aus dem Fahrzeug“ und gleich darauf durch die Landesleitzentrale bestätigt „Verstanden – Schusswechsel“. Um 00:49:21 funkt wiederum der Streifenkraftwagen von KontrInsp S. F**** „Dringend Doktor und Notarzt bitte für einen von den Flüchtlingen“. Der behauptete Funkspruch von P. F****, mit dem er mitgeteilt habe, dass die Schüsse von ihnen abgeben wurden, ist allerdings nicht angeführt.

Die Verantwortung von KontrInsp S. F**** ist nachvollziehbar und mit den vorliegenden Beweisergebnissen in Einklang zu bringen. Sie ging davon aus, dass aus dem Schlepperfahrzeug auf ihre Kollegen geschossen wurde. Da der behauptete Funkspruch von RevInsp P. F**** nicht festgestellt werden konnte, ist das glaubwürdig. Es ist daher nachvollziehbar, dass sie unter hoher Anspannung stand, von einer aktuellen Bedrohung – auch durch Schusswaffen – ausging und die Langwaffe im Tatzeitpunkt auf das Fahrzeug gerichtet war. Das Fahrzeug war in der Nacht schlecht einsehbar und es stand zu diesem Zeitpunkt nicht fest, wer im Fahrzeug war. Es ist von einer unbeabsichtigten Schussabgabe auszugehen, der sich durch ein Stolpern im tiefen Schnee und einer damit verbundenen unabsichtlichen Betätigung des Abzuges erklären lässt.

Die Verantwortung von RevInsp T. F**** erweist sich ebenfalls als schlüssig und lebensnah. Es ist glaubwürdig, dass er im Tatzeitpunkt um sein Leben fürchtete, weil E. L**** mehrfach versuchte, den Streifenkraftwagen von der Straße zu rammen. Aufgrund der Fahrbahnverhältnisse und den gefahrenen Geschwindigkeiten entstand hierdurch eine konkrete Gefahr für das Leben der Polizisten. Dieser Umstand wurde auch durch das eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dipl.Ing.(FH) G. K**** und alle vernommenen Zeugen bestätigt.

 

Rechtliche Beurteilung hinsichtlich KontrInsp S. F****:

KontrInsp S. F**** war nunmehr verdächtig, am 11.12.2023 in 5760 Saalfelden fahrlässig eine schwere Verletzung von A. A****, nämlich einen Gesichtsschädeldurchschuss mit massiven Zertrümmerungen, verursacht zu haben, indem sie den Finger am Abzug der Langwaffe „Steyr AUG ZA3“ hatte, als sie rückwärts ging, stolperte und dadurch den Abzug betätigte.

Aufgrund der geschilderten besonderen, mit einem außerordentlichen Stress für die einschreitenden Beamten verbundenen Umstände war die Schussabgabe nicht auf ein außergewöhnlich sorgloses Verhalten der KontrInsp S. F**** zurückzuführen, weshalb ihr zwar fahrlässiges Handeln, jedoch keine grobe Fahrlässigkeit anzulasten war.

In Hinblick auf ihre bisherige Unbescholtenheit, die erfolgte Verantwortungsübernahme und die nicht schwere Schuld wurde KontrInsp S. F**** eine diversionelle Erledigung gemäß § 203 Abs 1 StPO unter Setzung einer Probezeit von zwei Jahren und Zahlung eines Pauschalkostenbeitrages angeboten. Es standen weder general- noch spezialpräventive Gründe entgegen, zumal der Unfall im Zuge der Dienstverrichtung passierte und sich KontrInsp S. F**** kurz davor wegen der Taten von E. L**** selbst in Lebensgefahr befand.

KontrInsp S. F**** nahm das Diversionsanbot an und bezahlte die Pauschalkosten, weshalb das Verfahren mit Verfügung vom 08.07.2024 gemäß § 203 Abs 1 StPO für eine Probezeit von zwei Jahren vorläufig eingestellt wurde.


Rechtliche Beurteilung hinsichtlich RevInsp T. F****:

Sofern der Waffengebrauch durch die Vorschriften des WaffGG gedeckt ist, ist er nicht rechtswidrig. Die Befugnisse des WaffGG bilden daher den Rechtfertigungsgrund als Ausfluss der Ausübung von Amts- oder Dienstbefugnissen. Dieser Rechtfertigungsgrund ist auch anzunehmen, wenn Organe nach § 2 Z 1 WaffGG bzw § 7 Z 1 WaffGG „in Notwehr“ von der Waffe Gebrauch machen. Durch das Waffengebrauchsgesetz wurde somit eine spezielle Regelung geschaffen, die im Vergleich zum Notwehrrecht privater Personen durch Einsatz einer Waffe teilweise weitere, hinsichtlich des – wie im Anlassfall vorliegenden – lebensgefährlichen Waffengebrauchs als „ultima ratio“ aber engere Befugnisse der Exekutivbeamten statuiert (vgl RIS-Justiz RS0082520 [OGH 13 Os 117/86]; OGH 1 Ob 15/86; Keplinger/Nedwed, Waffengebrauchsgesetz 1969, Praxiskommentar9 Anm 8 zu § 1, Anm 17 zu § 2; Fabrizy/Michel-Kwapinski/Oshidari, StGB14 § 3 Rz 2; Lewisch, WK2 StGB § 3 Rz 134).

Ein lebensgefährdender Schusswaffengebrauch ist – soweit hier relevant (vgl die taxative Aufzählung in § 7 Z 1 bis 4 WaffGG) – nur im Falle gerechter Notwehr zur Verteidigung eines Menschen (§ 7 Z 1 WaffGG) oder zur Erzwingung der Festnahme einer allgemein gefährlichen Person, die einer mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedrohten, gerichtlichen Vorsatzstraftat dringend verdächtig ist (§ 7 Z 3 WaffGG), zulässig.

Im Notwehrfall darf nach den Umständen in die Rechtsgüter des Angreifers auch dann eingegriffen werden, wenn dessen Schaden höher ist als der abzuwendende Schaden aus dem Angriff (vgl Keplinger/Nedwed, aaO, Anm 6 zu § 6).

Bei Angriffen gegen Leib und Leben ist der Angriff noch gegenwärtig, solange der Täter nach einem ersten Angriffsakt aus der begonnenen Angriffssituation heraus eine neue Attacke setzen will (vgl RIS-Justiz RS0088813; Lewisch in WK2 StGB § 3 Rz 77; Keplinger/Nedwed, aaO, Anm 11 zu § 2).

Aufgrund der im Bericht geschilderten objektiven Umstände (ungebremstes Auffahren auf das mit 80 bis 100 km/h fahrende Polizeifahrzeug und seitliches Rammen [ein bei höheren Geschwindigkeiten äußerst riskantes „PIT-Manöver“]) ist daher objektiv und auch aus Sicht des RevInsp T. F**** anzunehmen, dass E. L**** zur Ermöglichung der Flucht neuerlich versucht hätte, das Polizeifahrzeug von der Fahrbahn abzudrängen, womit in örtlicher und zeitlicher Konnexität ein schwerwiegender (weiterer) Angriff auf das Leben von RevInsp P.F**** und RevInsp T. F**** drohte. Nach dem kfz- technischen Sachverständigengutachten Dipl. Ing. (FH) G. K**** bestand bei den damals herrschenden rutschigen Fahrbahnverhältnissen durch die mehrmaligen Stoßimpulse gegen den Streifenkraftwagen jeweils die erhebliche Gefahr des Abkommens von der Fahrbahn in Richtung des Böschungsgrabens (samt Überschlagsneigung) und damit einhergehend die Gefahr von lebensbedrohlichen Verletzungen an den Körpern der Insassen des Streifenkraftwagens.

Die §§ 4 bis 6 WaffGG regeln die Grenzen der Zulässigkeit des Waffengebrauchs und Aspekte des Verhältnismäßigkeits- und Schonungsgrundsatzes, die sinngemäß auch für den mit Lebensgefährdung verbundenen Waffengebrauch gelten (vgl RIS-Justiz RS0082536; OGH 1 Ob 9/95; Keplinger/Nedwed, aaO, Anm 1 zu § 7 mHa OGH 1 Ob 15/86).

Nach § 4 WaffGG ist der Waffengebrauch nur zulässig, wenn ungefährliche oder weniger gefährliche Maßnahmen, wie insbesondere die Aufforderung zur Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes, die Androhung des Waffengebrauches, die Verfolgung eines Flüchtenden, die Anwendung von Körperkraft oder verfügbare gelindere Mittel, wie insbesondere Handfesseln oder technische Sperren, ungeeignet erscheinen oder sich als wirkungslos erwiesen haben.

§ 8 Abs 3 WaffGG erlaubt im Falle von Notwehr (vgl § 7 Z 1 WaffGG) einen lebensgefährdenden Waffengebrauch ausnahmsweise aber auch dann, wenn er nicht angedroht wurde und Unbeteiligte gefährden kann (Keplinger/Nedwed, aaO, Anm 7 zu § 8).

Stehen keine tauglichen Maßnahmen oder Mittel iSd § 4 WaffGG zur Verfügung, ist nach den §§ 5, 6 WaffGG von der am wenigsten gefährlichen Waffe Gebrauch zu machen, und zwar mit möglichster Schonung für Menschen und Sachen, wobei sie wenn möglich gegen Sachen einzusetzen ist. Nur wenn dies nicht möglich ist, dürfen Waffen gegen Menschen eingesetzt werden. Der Schuss auf die Reifen des Fluchtfahrzeugs geht daher dem Schuss auf den Flüchtenden vor. Ein Schusswaffengebrauch, um ein Fahrzeug zum Stehen zu bringen, ist auf die Beifahrerseite geboten, wenn kein Beifahrer im Fahrzeug ist (vgl Keplinger/Nedwed, aaO, Anm 3 zu § 4, Anm 4 zu § 5 mHa VwGH 18.11.2010, 2006/01/0083, Anm 7 zu § 6).

Der konkrete Gebrauch der Waffe muss tauglich sein, um den in § 6 WaffGG genannten Zweck herbeizuführen. Ein Schuss auf ein rasant annäherndes Fahrzeug ist nicht zulässig, weil mit der Waffenwirkung nicht erreicht werden kann, dass das in Bewegung befindliche Fahrzeug gestoppt wird (vgl Keplinger/Nedwed, aaO, Anm 5 zu § 6).

Dass der Zweck eines Waffengebrauchs nur sein darf, angriffs-, widerstands- oder fluchtunfähig zu machen, schließt jedoch in Extremsituationen und unter den übrigen Voraussetzungen des § 7 WaffGG auch eine gezielte Tötung von Menschen nicht aus (vgl Keplinger/Nedwed, aaO, Anm 4 zu § 6).

In dieser kritischen Situation, in der RevInsp T. F**** die ihm überantwortete Entscheidung, ob er von der Schusswaffe Gebrauch macht, in Sekundenbruchteilen zu treffen hatte, erschienen daher (sowohl objektiv als auch nach der „ex-ante-Einschätzung“ des Polizeibeamten) ungefährliche oder weniger als der Waffengebrauch gefährliche Maßnahmen als völlig ungeeignet, E. L**** von der Fortsetzung seines Verhaltens abzuhalten, und hätten sich (wie schon zuvor) als wirkungslos erwiesen.

Die Schussabgaben waren daher – auch bei einer Beurteilung „ex ante“ zur sofortigen, verlässlichen und endgültigen Abwendung einer Gefahr für Leib und Leben (vgl RIS-Justiz RS0089309; Lewisch in WK2 StGB § 3 Rz 77 ff) – nach den Umständen des Einzelfalls als einziges Abwehrmittel notwendig und unvermeidlich. Von einer Untauglichkeit kann aus der Perspektive des RevInsp T. F**** nicht ausgegangen werden.

RevInsp T. F**** war daher zum lebensgefährdenden Schusswaffengebrauch nach § 7 Z 1 WaffGG aufgrund „gerechter Notwehr“ berechtigt.

Zudem wäre der Waffengebrauch auch nach § 7 Z 3 WaffGG (Erzwingung einer rechtmäßigen Festnahme) gerechtfertigt, weil der flüchtende E. L**** ua gerichtlicher Straftaten, die nur vorsätzlich begangen werden können und mit mehr als 1 Jahr Freiheitsstrafe bedroht sind, dringend verdächtig ist (ua § 269 Abs 1 StGB, § 114 Abs 1, Abs 3 Z 2, Abs 4 1. und 2. Fall FPG). Die lebensgefährliche Fahrweise und dadurch erfolgte Gefährdung nicht nur der Polizeibeamten, sondern auch der sich im Schlepperfahrzeug befundenen Insassen (§ 176 Abs 1 StGB) und seine Tätigkeit für eine international agierende kriminelle Vereinigung, die sich auf Schleppungen vor allem syrischer Staatsangehöriger unter anderem via Österreich nach Deutschland spezialisiert hat, wobei deren Mitglieder (wie E. L****) im Falle von Polizeikontrollen „extremes Fluchtverhalten“ zeigen, kennzeichnen ihn als „allgemein gefährlichen Menschen“.

Die fahrlässig herbeigeführten Verletzungen bei A. D**** hatten im Übrigen keine Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit von mehr als vierzehntägiger Dauer zur Folge (§ 88 Abs 2 Z 2 StGB).

Das Ermittlungsverfahren gegen RevInsp T. F**** wegen der dargestellten Vorwürfe wurde mit Verfügung vom 08.07.2024 gemäß § 190 Z 1 StPO eingestellt.

Ausdruck vom: 25.04.2025 05:01:57 MESZ