zur Navigation
Aktenzeichen:

StA Salzburg (568), 5 St 260/22g

Veröffentlicht durch:

OStA Linz (457), 5 OStA 131/23g

Bekannt gemacht am:

05.05.2023


Entscheidungsdatum:

27.02.2023

Einstellungsgrund

§ 190 Z 2 StPO


 

Aufgrund einer Sachverhaltsdarstellung des L*** des Landes Salzburg vom 29. April 2022, bezugnehmend auf einen Bericht der Volksanwaltschaft vom 25. April 2022, aus dem sich erhebliche Missstände in der Pflege der Heimbewohner des S*** S*** Salzburg-Lehen ergaben, wurde von der Staatsanwaltschaft Salzburg (zunächst gegen unbekannt) ein Ermittlungsverfahren wegen des Vergehens der Körperverletzung nach den §§ 83 ff StGB und des Vergehens des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 1 StGB geführt.


Anlass für die Anzeigeerstattung war der Fall der Heimbewohnerin M*** K***, welche durch unterlassene Pflegeleistungen im Zeitraum von 21. Dezember 2021 bis 21. April 2022 Körperverletzungen in Form von offenen Dekubitus-Wunden erlitten habe. M*** K*** verstarb am 28. April 2022 im LKH Salzburg – laut Anlassbericht des LKA Salzburg vom 1. Juni 2022 vermutlich an den Folgen einer Covid-Erkrankung.


Zwischenzeitig wurde mit Verfügung vom 1. September 2022 ein weiteres Ermittlungsverfahren (10 UT 47/22w) gem. § 26 StPO in das Verfahren 5 UT 18/22v einbezogen. Hier wandte sich eine diplomierte Pflegekraft am 24. Juli 2022 - zunächst anonym - an das SPK Salzburg und schilderte später als Zeugin vernommen ihre Wahrnehmungen, wonach die Bewohner des Heimes menschenunwürdig behandelt würden und durch die schlechte Pflege Verletzungen erlitten hätten. Aus ihrer Sicht herrsche ein großer Personalnotstand und teilweise große Inkompetenz. Laut ihren Aussagen sei zum größten Teil das Stammpersonal dafür verantwortlich.

 

Konkret bestand daher der Verdacht, Mitarbeiter des Pflegeheims haben im Zeitraum seit Ende 2021

a. M*** K*** und andere Heimbewohnern durch unzureichende, falsche oder unterlassene (§ 2 StGB) Pflege in Form von Dekubitus-Wunden am Körper verletzt;

b. M*** K*** und anderen noch näher zu konkretisierenden Heimbewohnern, die ihrer Fürsorge unterstehen und die wegen ihrer Gebrechlichkeit und Krankheit wehrlos sind/waren, körperliche oder seelische Qualen zugefügt

und dadurch (zumindest) das Vergehen der Körperverletzung nach den §§ 83 ff StGB und das Vergehen des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 1 StGB begangen.


16 Personen wurden als Verdächtige (= PflegeassistentInnen) bzw. Beschuldigte (= diplomierte Pflegefachkräfte) erfasst und zu den Vorwürfen einvernommen. Hinsichtlich der PflegehelferInnen wird auf §§ 14, 83 des Bundesgesetzes über Gesundheits- und Krankenpflege verwiesen, wonach der jeweilige Mitarbeiter des gehobenen Dienstes die Gesamtverantwortung für den Pflegeprozess, die Planung und Durchführung von angeordneten Pflegemaßnahmen trägt (weshalb diese „bloß“ als Verdächtige und nicht als Beschuldigte geführt wurden.).


Das Ermittlungsverfahren wurde mit Verfügung vom 27. Februar 2023 gem. § 190 Z 2 StPO aus nachfolgenden Überlegungen eingestellt:


Eine gröbliche Vernachlässigung der Verpflichtung zur Fürsorge oder Obhut iSd § 92 Abs 2 StGB liegt vor, wenn ein krasses, geradezu auf einen Charaktermangel hinweisendes Missverhältnis zwischen dem Verhalten des Täters und dem von ihm erwarteten Maß an Fürsorge und Obhut besteht (RIS-Justiz RS0093113, RS0093155 und RS0093174 ua). Grundsätzlich ist dabei nach stRsp die trotz Erkennens behandlungsbedürftiger Symptome erfolgte Unterlassung, für die entsprechende ärztliche Behandlung oder eine rechtzeitige Spitalsunterbringung des Schutzbefohlenen zu sorgen, tatbestandsmäßig. Gleichwohl soll mit dem Begriff der „Vernachlässigung“ qualifizierte Untätigkeit, respektive ein erheblicher Mangel an Bereitschaft, seinen Pflichten nachzukommen, erfasst werden, sodass Vernachlässigungen minderer Art und Schwere von § 92 Abs 2 StGB ebenso wenig erfasst werden, wie vom Täter zwar gut gemeinte, aus objektiver Sicht jedoch falsche Entscheidungen.


Vordergründig erfüllte die Heimbewohnerin zwar die Voraussetzungen der Wehrlosigkeit, weil sie auf umfassende Unterstützung in allen körperlichen Belangen angewiesen war. Ebenso spricht die auch von der beauftragten Sachverständigen aus dem Fachbereich Gesundheits- und Krankenpflege angesprochene Einweisungsdiagnose isoliert betrachtet für eine Vernachlässigung, weil sich die Geschwüre nach dem derzeitigen Ermittlungsstand über Wochen, wenn nicht Monate entwickelt haben, womit eine entsprechend lange Vernachlässigung der notwendigen Pflege indiziert ist.

Ein Blick in die umfassende, wenn auch lückenhafte Pflegedokumentation zeigt, dass aber jedenfalls pflegerische Maßnahmen gesetzt wurden, vielfach aber auch entlastende Handlungen vom Opfer nicht toleriert wurden. Eine gröbliche Vernachlässigung im Sinne der stRsp zu § 92 Abs 2 StGB lässt sich bei der festgestellten Vorgehensweise des Pflegepersonals nach dem obigen Grundsätzen der Rechtsprechung aber nicht begründen. Denn unter Berücksichtigung der konkreten Tatumstände, insbesondere des Personalmangels, stehen die festgestellten Pflegemängel nicht in einem auffallenden, krassen Missverhältnis zu dem erwarteten Maß an Fürsorge.

Natürlich wird bspw. von den Pflegekräften zu erwarten sein, dass sie die ärztlich verordneten Salben und Verbände verwenden und besteht somit ein Missverhältnis, jedoch wird die von der Rechtsprechung geforderte Intensität dieses Missverhältnisses nicht erreicht, zumal Wundversorgung und Lagerungswechsel bei der Bewohnerin tatsächlich stattgefunden haben und aufgrund von fehlender Einschulung, fehlender Zeit, fehlender Dokumentation, teils auch fehlendem Material dem Pflegepersonal nichts anderes menschenmöglich und zumutbar war. Hinzu kommt auf Beweisebene, dass aufgrund der tatsächlich lückenhaften Pflegedokumentation auch nicht auszuschließen ist, dass doch mehr Pflegemaßnahmen gesetzt, als schriftlich festgehalten wurden, da schlicht die Zeit fehlte, alle Handgriffe nachvollziehbar zu dokumentieren.


Darüber hinaus lassen die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Vernachlässigung und der Tatfolge im Sinne einer „Quasikausalität“ nicht mit der für ein Strafverfahren erforderlichen Sicherheit zu:

Demnach kommt es darauf an, ob der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wegzudenken ist, wenn die vom Täter pflichtwidrig unterlassene Handlung hinzugedacht wird (RIS-Justiz RS0089436) und dies ist hier – zumindest im Zweifel – zu verneinen. Aufgrund des beim Opfer schon bei Einzug in das Heim vorhandenen, übereinstimmend beschriebenen schlechten Ernährungs- und Allgemeinzustands, den auch die Sachverständige bestätigt, war das Eintreten eines Wundliegens schon aufgrund der Vorerkrankungen zumindest begünstigt, und kann daher nicht mit der für das Strafverfahren erforderlichen Sicherheit unterstellt werden, dass die pflegerischen Verfehlungen zwingend zum Dekubitus geführt hätten.


Weiters ist bei sämtlichen Verdächtigen/Beschuldigten, die - aus ihrem jeweiligen Blickwinkel nachvollziehbar - ihre durchaus verzweifelte und überlastete Situation schildern, die sich durch das unglückliche Eintreten eines „Corona-Clusters“ im März 2022 zusätzlich verschlechterte, das Vorliegen eines zumindest bedingten Vorsatzes der Aktenlage nicht ausreichend entnehmbar:

Denn fraglich erscheint zunächst, ob das Opfer die pflegerischen Maßnahmen überhaupt tolerierte bzw. darüber hinaus toleriert hätte: Es ist die „Linkstendenz“ des Opfers aufgrund der Halbseitenlähmung ebenso zu berücksichtigen wie deren ablehnende Einstellung zu Positionswechseln und Mobilisierungsmaßnahmen, bzw. ihr ständiges selbständiges Zurückdrehen auf den Rücken nach erfolgter Lagerung durch die Pflegekräfte. Mehrere Pflegekräfte geben übereinstimmend an, dass sie sehr wohl versucht hätten, das Opfer zu motivieren, sich aus dem Bett zu begeben oder sich mobilisieren zu lassen, M*** K*** habe jedoch meist abgelehnt. Auch habe man das Opfer auf die Seite gedreht, um ein Wundliegen zu vermeiden, sie habe sich aber selbständig wieder auf den Rücken gedreht.

Die Darstellung der belangten Pflegekräfte und Verantwortlichen spricht auch unter diesem Aspekt für das Fehlen eines solchen Vorsatzes, weil sie - ausgehend von der vollen Geschäftsfähigkeit der M*** K*** - ihr Vorgehen (eher) als Ausfluss der Achtung deren Willens angesehen haben dürften (vgl etwa den zu 7 Bs 234/96 des OLG Linz [RIS-Justiz RL0000011] entschiedenen Fall) und jeder für sich angesichts des eklatanten Personalmangels vor dem Hintergrund einer absoluten Ausnahmesituation für den Pflegebereich zu Corona-Pandemie-Zeiten, sich glaubhaft und nach Kräften bemühte, den täglichen Ablauf der pflegerischen Leistungen noch so gut es ging aufrecht zu erhalten.


Aus ähnlichen Überlegungen scheitert auch die Annahme eines Kausalzusammenhangs vor dem Hintergrund des § 88 Abs 1 StGB iVm § 2 StGB:

Grundvoraussetzung der Erfolgszurechnung ist der Kausalzusammenhang, welcher im Sinn der Äquivalenztheorie zu verstehen ist. Zu prüfen ist, ob das Verhalten des Täters conditio sine qua non für den Erfolg war (RS0089176 [T6]). Bei der Zurechnung eines Erfolges zu einer Unterlassung ist nach stRsp davon auszugehen, dass ein (Quasi-)Kausalzusammenhang nur bejaht werden kann, wenn sich feststellen lässt, dass eine den objektiven Sorgfaltsanforderungen entsprechende, in concreto aber eben unterlassene Handlung den eingetretenen Erfolg in seiner konkreten, tatbildmäßigen Gestalt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgewendet hätte (vgl Burgstaller/Schütz in Höpfel/Ratz, WKStGB § 6 Rz 62 mwN). Gegenständlich kann aber nicht mit der für eine Strafverfahren erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Dekubitus bei M*** K*** angesichts ihres schlechten Allgemeinzustandes schon bei Aufnahme in das Pflegeheim nicht auch bei ordnungsgemäßer Pflege eingetreten wäre. Zudem hat M*** K*** durch die oben dargestellte, kaum vorhandene Bereitschaft zu Umlagerungs- und Mobilisationsmaßnahmen selbst ein Fehlverhalten gesetzt, das das Risiko eines Dekubitus beträchtlich erhöht hat.

Die Gesamtumstände und die einen Dekubitus begünstigenden Faktoren (auf welche die Verdächtigen und Beschuldigten keinerlei Einfluss hatten), lassen daher die Feststellung nicht zu, dass das konkrete Verhalten der Mitarbeiter und Führungskräfte des Pflegeheimes, also das faktische Unterlassen einer umfassenden Wundversorgung und ausreichenden Pflege zur eingetretenen Gesundheitsschädigung geführt hat, während diese bei korrekter Behandlung (selbst bei optimaler Personalausstattung) mit praktischer Gewissheit zu verhindern gewesen wäre.


Zur Verantwortlichkeit der übergeordneten Organisations-/Aufsichtsorgane:

Die Regelung der Errichtung und des Betriebes von Heimen für Personen, die sowohl ständiger Pflege, aber auch bloß fallweiser ärztlicher Betreuung bedürfen und somit auch die Personalausstattung fällt gemäß Art 15 Abs 1 B-VG in den Kompetenzbereich der Länder. Die Gestaltung der Strukturqualitätsvorgaben zur Personalausstattung ist dabei in den Bundesländern sehr unterschiedlich. In den §§ 16 ff des Salzburger Pflegegesetzes werden – wenig konkrete Mindeststandards für Senioren und Seniorenpflegeheime normiert. Zum hier relevanten Thema der Personalausstattung hält § 18 des Salzburger Pflegegesetzes fest, dass die Träger von Senioren- und Seniorenpflegeheimen sicherzustellen haben, dass ihnen für die Leistungserbringung eine ausreichende Zahl an Angestellten, fachlich qualifiziertem Personal und nicht pflegendem Hilfspersonal entsprechend der Anzahl der Bewohner sowie der Art und dem Ausmaß der diesen zu erbringenden Leistungen zur Verfügung steht und dass die Pflegeleistungen durch entsprechend qualifiziertes Personal im Sinne des GuKG erbracht werden. Für Salzburg gibt bzw. gab es zum Zeitpunkt der Einholung des gesundheits- und krankenpflegerisches Sachverständigengutachtens aber keinen offiziellen Pflegeschlüssel. Strafbestimmungen sind in den derzeit bestehenden, oben zitierten Vorschriften nicht enthalten. Inwieweit diese vorhandenen Richtlinien bezüglich Personalmindeststandards ausreichend sind und allenfalls strenger sanktioniert werden sollten, und ob ein konkreter Personalschlüssel geschaffen werden sollte, ist derzeit Gegenstand intensiver politischer Diskussionen und freilich Sache des Gesetzgebers.

Nach den übereinstimmenden Angaben der vernommenen Personen und auch nach den Schilderungen in der Sachverhaltsdarstellung haben – soweit es die Besuchsbeschränkungen in Pflegeheimen während der Pandemiezeit zuließen – laufend Kontrollen iSd § 33 des Salzburger Pflegegesetzes stattgefunden und wurden auch die zu Tage getretenen Missstände zwischen Aufsichtsorganen und Heimleitung kommuniziert, konnten aber aufgrund der akuten Personalnot nicht entsprechend rasch in den Griff bekommen werden.


Das Verfahren war daher gem. § 190 Z 2 StPO einzustellen.

Ausdruck vom: 08.05.2024 08:10:26 MESZ